Münchner Feuilleton August/September 2012
Fremde oder Freunde?
Mit »Fenster in der Nacht« bricht die Regisseurin Eos Schopohl die Bilder in unserem Kopf.
Von CHRISTIANE WECHSELBERGER
Unentdeckte Orte sind ein Markenzeichen des Theaters Fisch und Plastik von Eos Schopohl. Seine Crew machte im Giesinger Bahnhof vor seiner Renovierung Gorkis Sommergäste mit Asylanten bekannt, führte Sanierungsspekulanten und Mieteraktivisten in Martin Sperrs »Münchener Freiheit« durch die White Box in der Kultfabrik, die damals noch Forum im Kunstpark hieß. Das Theater Fisch und Plastik entdeckte die Reaktorhalle als Spielort, den Tiefbunker an der Bayerstraße und die Kongresshalle auf dem alten Messegelände. In seiner jüngsten Produktion »Fenster in der Nacht« unternimmt es mit dem Publikum eine Reise an den Rand der Stadt, in die ehemalige Bayernkaserne.
Während die Zuschauer draußen im Dunkeln stehen, gehen in Haus Nr. 19 Lichter an und erlauben einen Blick auf die Menschen in den einzelnen Zimmern. Da sind zwei Männer, die in einem lampiongeschmückten Raum ein Fest vorbereiten. Eine einsam wirkende Frau bügelt Wäsche. Ein Paar wird von einem wütenden Mann überrascht. Eine Gruppe Frauen macht sich für eine Party hübsch. Eine Frau starrt in ihren Computer. Ein Mann wühlt nervös in den Papieren aus seinem Koffer. Einzeln, nebeneinander oder übereinander gehen die Lichter an, wie auf einer Schalttafel. Die Geschichten hinter den stummen Bildern muss sich jeder selbst zusammenreimen. Dieser erste Teil spielt mit der voyeuristischen Neugier eines jeden von uns. Wer schaut nicht gern dem Nachbarn durchs hell erleuchtete Fenster ins Leben hinein und interpretiert das anscheinend Offensichtliche?
Doch was haben wir wirklich gesehen? Im zweiten Teil streifen die Zuschauer durch die verlassenen Räume. Kein Mensch da, nur sparsame Möblierung, ein paar spezifische Gegenstände (Ausstattung: Lucia Nußbächer) - und: Stimmen. Die Stimmen der Verschwundenen, und das ist der eigentliche Clou der Performance, die auch mit starken Darstellern punktet, erzähhlen eine ganz andere Geschichte und machen klar, wie Bilder täuschen können. Der Film, der beim Anschauen in unseren Köpfen entstand, hat meist nicht viel mit dem zu tun, was wirklich hinter den Bildern liegt. Wo wir vielleicht einen gelangweilten Internetjunkie zu sehen glaubten, schreibt eine irakische Bloggerin um ihr Leben. Die vermeintliche Eifersuchtsszene entpuppt sich als Tragödie aus der Nazizeit. Ob literarischer Text (u. a. von Hermann Hesse und Erich Maria Remarque) oder dokumentarische Aufzeichnungen, ,alle Lebensausschnitte handeln von Flucht: vor Krieg, vor Diktatur, vor Not, vor dem Leben, vor sich selbst. Schopohls Experiment mit den verschiedenen Formen der Wahrnehmung eröffnet dem Zuschauer die Erkenntnis, dass es sich lohnt, einen Blick hinter das Offensichtliche zu werfen.
SZ, 12.11.2011 07:20
Stummfilmtragödien
'Fenster in der Nacht' in der Kaserne
München - 'Durch Fenster sehen wir die Wahrheit, aber sie trennen uns von der Wirklichkeit', sagte einst Khalil Gibran, libanesischer Dichter und Philosoph. Tatsächlich stecken hinter den Geschichten, die ein Nachbar oder ein Spaziergänger durch das Fenster eines Wohnhauses beobachtet, ganz andere Wirklichkeiten als zunächst angenommen. In ihrem neuen Theaterstück 'Fenster in der Nacht', das auf dem stillgelegten Gelände der Bayernkaserne uraufgeführt wurde, hat Regisseurin Eos Schopohl den quadratischen Glaskasten jetzt in Szene gesetzt: Hinter den Scheiben des Kasernengebäudes stellen die Schauspieler des Ensembles 'Fisch und Plastik' Szenen aus dem Alltag nach. Flucht und Krieg stehen dabei im Mittelpunkt, doch erschließt sich dem Publikum die Thematik erst nach der Pause. Im ersten Akt nimmt der Zuschauer die Rolle eines Voyeurs im Dunkeln ein, amüsiert sich über die Menschen hinter den Fenstern. Er spitzt die Ohren, um mehr als ein paar Wortfetzen zu verstehen.
Schopohl ist bekannt für ihre ständigen Perspektivenwechsel, und so zieht das Publikum von Station zu Station, um sich einen Einblick in alle Zimmer zu verschaffen. Die traditionellen Schranken zwischen Schauspieler und Zuschauer sind aufgehoben. Immer wieder geht in einem neuen Raum das Licht an, in einem anderen aus. Eingebaute Slapstick-Elemente bringen das Publikum zum Lachen, so schüttet zum Beispiel die Muslimin den Inhalt der Bettpfanne aus dem Fenster. Im zweiten Akt werden die Zuschauer durch die einzelnen Zimmer geführt, sie sind menschenleer. Im Hintergrund läuft ein Tonband und spielt die Gespräche ab, die zuvor von außen nicht zu hören waren.
Man schämt sich fast ein wenig für sein Lachen, wenn sich die Tragik der Schicksale offenbart. Die Muslimin berichtet von ihrem Mann, einem Freiheitskämpfer Allahs, wie er angeschossen wurde, und davon, dass auch ihre Kräfte schwinden. Die Journalistin erzählt von amerikanischen Bombenattentaten im Irak und von der Trinkwassernot. Diese versinnbildlicht ein leerer Kanister in ihrem Zimmer. Bühnenbildnerin Lucia Nußbächer versteht es, die passenden Requisiten sparsam einzusetzen. Das Stück erklärt sich allein aus dem zweiten Akt, er gibt dem komischen Stummfilmtheater davor einen Sinn. Melissa Strauch
AZ, 12. 11. 11
Ein Rest von Geheimnis
Kopfkino: „Fenster in der Nacht" in der Bayernkaserne
Wer hat nicht schon mal überlegt, was nachts hinter erleuchteten Fenstern passiert? Regisseurin Eos Schopohl, Spezialistin für ungewöhnliche Theaterprojekte, inszenierte mit ihrem Theater Fisch & Plastik für uns Voyeure ein spannendes Kopfkino. Ihre neue Produktion „Fenster in der Nacht" auf dem Gelände der Ex-Bayernkaserne lässt uns 40 Minuten im Freien durch helle Fenster private Situationen als Stummfilm-Szenen sehen. Was gesprochen wird, hören wir nicht, jeder. muss sich selbst einen Reim darauf machen.
Der erfährt in der zweiten Hälfte oft eine radikale Umdeutung. Dann betreten wir die von den Schauspielern verlassenen Zimmer. Darin hängen die Gespräche und Gedanken als Textschleifen. So entpuppt sich ein vermeintliches Eifersuchtsdrama als Versuch eines Nazi, seine nach Paris geflüchtete Schwester zurückzuholen (nach Remarque). Die Frau am Computer, die ängstlich den Vorhang zuzieht, ist eine irakische Bloggerin. Eine manisch putzende Hausfrau spricht über ihre Depressionen, ein Mann flüchtet, um nicht seine Familie umzubringen (nach Hesse). Eine zwangsverheiratete Afghanin pflegt ihren Mann im Koma, obwohl sie ihn töten möchte. Und eine junge schwarze Asylantin wird von zwei weiteren schwarzen Frauen zur Nutte ab- und hergerichtet.
Die Zuschauer wandern frei von Zimmer zu Zimmer, können reinhören, bleiben oder gehen. Alle (oft authentischen) Schicksale aus verschiedenen Epochen und Kulturen haben mit Flucht zu tun, innerer oder kriegsbedingter. Aber um alle spannenden Geschichten hinter den Bildern aufzunehmen, bräuchte man weit mehr Zeit als am Premierenabend. Das soll sich ändern, verspricht Eos Schopohl. Obwohl es Konzept bleibt, dass man nicht alles erfahren kann.
Gabriella Lorenz